Interview mit Viktor Martinovič
Viktor Martinovič ist ein belarussischer Schriftsteller und Kunsthistoriker. Sein 2009 in Russland publizierter Debütroman Paranoia ist kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen. Die Romanhandlung ist in einer antiutopischen Welt angesiedelt, die offensichtliche Parallelen zum heutigen Belarus aufweist. Im Gespräch mit der in Berlin lebenden russischen Autorin und Literaturwissenschaftlerin Ekaterina Vassilieva erzählt Martinovič über das Verbot von Paranoia in seinem Heimatland, die neue Sprachpolitik in Minsk und seinen neuesten auf Belarussisch verfassten Roman Mova.
novinki: Die erste Frage betrifft natürlich den in Deutschland frisch erschienenen Roman Paranoia, zu dem recht widersprüchliche Informationen kursieren. Die deutschen Medien berichten, dass er in Belarus verboten sei. Andererseits habe ich gehört, dass es kein offizielles Verbot gebe. Wie sieht es nun in Wirklichkeit aus? Wurde der Roman verboten, oder ist er vielleicht einfach nur unerwünscht?
Viktor Martinovič: Nun, einen Beschluss des Präsidenten, der diesen Roman verbietet, habe ich nicht gesehen. Aber wissen Sie, im DDR-Museum gibt es eine spannende Sache: Nachdem man die Aussagen bestimmter Kulturschaffender gelesen hat, bekommt man eine Liste mit Namen und muss diejenigen von ihnen streichen, die, wie man meint, die Partei verleumdet haben. Als ich mich auf diese Weise amüsierte, leuchtete mir ein, dass mein Schicksal möglicherweise so ähnlich entschieden wurde. Irgendein Dummkopf, der wahrscheinlich bloß die Synopsis meines Romans oder was weiß ich gelesen hatte, hat mich aus irgendeinem Grund auf die „schwarze Liste“ gesetzt. Wir haben sie nämlich immer noch, diese „schwarzen Listen“. Auch in Russland gibt es sie übrigens. Jedenfalls ist das Buch auf die „schwarze Liste“ gekommen. Das heißt, dass Buchhändler von Leuten aufgesucht wurden, die sie warnten, dass jeder, der diesen Roman verkauft, 500 Dollar Strafe zahlen muss. Ich habe zusammen mit einem Journalisten von Euroradio ein Experiment durchgeführt. Wir sind 2010 über einen großen Markt in Minsk gegangen, und ich habe nach Paranoia gefragt. Schließlich haben wir den Roman gekauft, aber unter dem Ladentisch, in einer schwarzen Tüte, mit Isolierband zugeklebt. So sah also das Verbot aus! Offiziell wurde darüber allerdings nicht berichtet: Es gab keinen Artikel in einer Zentralzeitung oder so.
n.: Man kann also in Minsk immer noch nicht einfach in eine Buchhandlung gehen und dort Paranoia bestellen?
V.M.: Nein, natürlich nicht! Ich habe seitdem noch drei Romane geschrieben. Die kann man alle frei kaufen. Aber mit diesem Buch ist es so eine Geschichte: Im belarussischen Internet kann man alles kaufen – von Drogen bis hin zum Kinderporno – nur nicht Paranoia!
n.: Man kann es aber herunterladen?
V.M.: Herunterladen schon. Ich denke, die Leute, die durchgesetzt haben, dass der Roman auf die „schwarze Liste“ kommt, haben eine simple Tatsache nicht berücksichtigt: dass man im 21. Jahrhundert ein Buch rein technisch nicht verbieten kann. Es gibt schlicht keine Mechanismen, die das ermöglichen würden.
n.: Das ist ein guter Übergang zu Ihrem neuesten Roman Mova (dt.: „Die Sprache“), der auf Belarussisch verfasst wurde und auch in russischer Übersetzung vorliegt, aber noch nicht auf Deutsch. Er spielt in einer Zukunft, in der alle Bücher auf Belarussisch verboten sind. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Warum verbreitet sich die „mova“ (die belarussische Sprache) dann nicht über das Internet? Warum müssen in dieser Welt die sehr begehrten Fragmente von Hand kopiert werden?
V.M.: Die Welt im Roman ist nun mal so organisiert, dass im Internet und überall spezielle Filter installiert sind. Für jede Veröffentlichung eines belarussischen Textes wird man sofort abgeholt. Aber vielleicht ist alles ja noch viel tragischer. Ihre Frage offenbart quasi die alte liberale Hoffnung, die Bürger würden sich unter allen Umständen vernünftig verhalten und es gäbe dazu ein geheimes Wissen, das jederzeit per Internet abrufbar ist…
n.: Aber Sie haben doch gesagt, dass man die Bücher heute unmöglich verbieten kann, und ich habe Ihnen nur zugestimmt…
V.M.: Jaja, aber in dieser Welt besteht kein Interesse daran, auf Belarussisch zu lesen, weil alle diese Sprache einfach vergessen haben. Es gibt nur einzelne „Sprachjunkies“, die streng überwacht werden und die eine furchtbare Angst haben, sich im Internet darüber auszutauschen, weil sie sonst sofort einen Besuch von der Drogenkontrollbehörde bekommen – das ist eine Organisation, deren Allmacht uns in der Szene am Grenzübergang zwischen Europa und den sogenannten „Nordwestlichen Territorien“ klar wird. Wir sehen, wie sich einer der beiden Erzähler, ein „Drogendealer“ namens Sergej, psychologisch auf das Gespräch mit dem Grenzsoldaten vorbereitet, um bloß nicht in die Fänge dieser Leute zu geraten… Die Frage mit dem Internet wird dort nicht erschöpfend beantwortet, aber technisch ist das wohl doch möglich, auch jetzt schon. Vor Kurzem erst kam die Nachricht, dass man, um zu bestimmten politischen Internetseiten aus Belarus Zugang zu bekommen, mittlerweile Proxy-Server einsetzen muss, weil sie sonst hinter Filtern versperrt bleiben. Deswegen habe ich es gar nicht für nötig befunden, im Rahmen des Romans alle Details zu schildern, wie genau man die Nationalsprache verboten hat. Sie ist einfach vor Jahren verboten worden, und alle haben sie vergessen – sie existiert nunmehr lediglich als Droge.
n.: Ja, aber die Idee ist doch, eine antiutopische Welt zu kreieren, die sich zum Teil vielleicht mit der Realität deckt, zum Teil aber eine Zukunftsprojektion ist, nicht wahr? Sie schenken den Nuancen normalerweise viel Aufmerksamkeit, und das bedingt nicht zuletzt auch den Genuss, den man bei der Lektüre empfindet. Es macht Spaß, diese Welt für sich zu entdecken, und man fragt sich deshalb: „Wie ist dieses oder jenes dort geregelt?“ Und man wünscht sich eine ganz konkrete Antwort… Meine nächste Frage bezieht sich unmittelbar auf die Situation der Nationalsprache, wie sie im Roman beschrieben wird: Inwiefern reflektiert Ihre Vision die Sprachpolitik im heutigen Belarus?
V.M.: Im Moment beobachten wir in Belarus eine Art Wiederbelebung des Interesses an der Nationalsprache – unter anderem auch von staatlicher Seite. Es gibt anscheinend ein Bestreben, die belarussische Sprache und Literatur zu fördern. Aber das alles geschieht vor dem Hintergrund der Situation, von der ich gesprochen habe: Alle haben schon vergessen, was Belarussisch überhaupt für eine Sprache ist und wie man sie benutzt. Ich vermute, im Land gibt es keine Fachleute mehr, die an den Universitäten auf Belarussisch unterrichten könnten. Die sind einfach nicht da. Und die Tradierung der Sprache ist eigentlich ein sehr langer Prozess. Du kannst also nicht heute die Belarussifizierung verkünden und morgen dieses Projekt bereits effektiv realisieren, weil man bestimmte Mechanismen der Weitergabe des Wissens braucht. Und dies beinhaltet vor allem das Interesse für die Nationalliteratur und die Fähigkeit, sie zu lesen. Diese Mechanismen sind während der letzten 20 Jahre, in denen eine aktive Russifizierung stattfand, zerstört worden.
n.: In der sowjetischen Zeit war es also besser?
V.M.: Genau so ist es, die Stellung der Nationalsprache war damals eine bessere! Verstehen Sie, wir reden jetzt von den staatlichen Interventionen, aber das ist eigentlich nur das Geringste. Sprechen wir lieber von den tiefer greifenden Prozessen, zum Beispiel von der Identität. Wenn man jemanden vor 20 Jahren Belarussisch sprechen hörte, oder auch vor 10 oder sogar vor 5 Jahren, dann sah man ihn sofort als Oppositionellen an. Aufgrund der schwachen nationalen Identität konnte man nicht anders urteilen. Eine etwas unkluge Haltung der Spitzenpolitiker der Nationalparteien in den 1990ern hat eine Situation geschaffen, in der die Sprache stark politisiert wurde. Denn die Regierung hat eigentlich nichts gegen den Willen der Bevölkerung getan. Die Menschen im Land wollten damals mehrheitlich, dass Belarussisch quasi verboten wird – und sie hat es verboten. Die Menschen wollten, dass alle Fernsehsendungen wieder auf Russisch ausgestrahlt werden – der Staat hat das durchgesetzt. Lukaschenko hat einfach die Ängste ausgenutzt, die die Menschen sowieso schon hatten…
n.: Aber warum hatte man Angst vor Belarussisch? Mit welcher Bedeutung war es aufgeladen?
V.M.: Verstehen Sie, wir hatten in Belarus in den 1990ern ungefähr dieselbe Situation wie in Litauen. Nach den Parlamentswahlen sind Leute an die Macht gekommen, die sehr nationalistisch eingestellt waren. Als sie dann anfingen, die Nationalsprache mit Gewalt überall einzuführen, bekam man Angst.
n.: Aber entspannt sich denn die Einstellung zur Sprache jetzt nicht?
V.M.: Nein, im Moment passiert etwas anderes. Erstens haben alle die 1990er Jahre vergessen. Einfach vergessen! Die Generation, die Angst hatte, den Job zu verlieren, weil sie auf Belarussisch nicht schreiben konnte, ist älter geworden und fürchtet sich nicht mehr. Andererseits haben die Menschen angesichts der Ereignisse auf der Krim und im Donecker Becken das Gefühl, dass wir hier, wenn wir weiter Russisch sprechen, dieselbe Spaltung erleben werden. Und das Gefühl ist recht unangenehm. Dazu kommt noch, dass die Sprache jetzt einfach im Trend ist, die jungen Leute unterhalten sich auf Belarussisch, nicht weil sie ihren Nonkonformismus demonstrieren wollen, sondern umgekehrt: weil sie konform sein, mit der Mode gehen wollen. Diese drei Faktoren haben insgesamt zu einer Art Renaissance der belarussischen Sprache beigetragen: Die Auflagen belarussischer Bücher sind enorm gestiegen, die nationalen Schriftsteller sind endlich wieder Helden…
n.: Ihren ersten Roman haben Sie noch auf Russisch geschrieben. Danach kam aber die „belarussische Periode“?
V.M.: Nach Paranoia wurde tatsächlich der belarussische Roman Scjudzeny vyraj geschrieben, was man als „Das kalte Paradies“ übersetzen kann. Das Wort „vyraj“ bezeichnet in der belarussischen Mythologie zweierlei: den Ort, an den die Seelen der Gerechten nach dem Tod kommen, und ein warmes Land, wohin die Vögel im Winter fliegen. Ein schönes Bild, nicht wahr? Dieser Text ist, was den Stil und die Komposition betrifft, das Komplexeste, was ich je geschrieben habe. Es ist eine Art Krimi mit dreimaliger Widerlegung, was ein wenig an Fahles Feuer von Nabokov erinnert, mit dem Unterschied jedoch, dass die „Kommentare“ hier abwechselnd von unterschiedlichen Instanzen kommen. Das provoziert eine quasi schizophrene Störung der Realitätswahrnehmung beim Leser. Danach schrieb ich erneut einen Roman in russischer Sprache, Sfagnum. Er spielt in der belarussischen Provinz und erzählt von drei Kerlen aus der sozialen Unterschicht von Minsk, die einen Mord begangen haben. Sie verstecken sich nun vor der Justiz in den belarussischen Sümpfen, wo schließlich alles anders wird, als es vorher zu sein schien… Sfagnum ist ein Versuch, über die komplizierten Dinge – die Metaphysik, das Leben, den Tod, das Unsichtbare – in einer bewusst einfachen Sprache zu erzählen. Ich habe diesen Roman auf Russisch geschrieben, weil ich es für etwas unglaubwürdig hielt, dass diese „Jungs“ sich in der Sprache der belarussischen Intellektuellen unterhalten würden. Aber dann kam es zu einer Kooperation mit dem „belarussischen Žadan“, Vitalij Ryžkov. Er fertigte eine hervorragende Übersetzung an, die beweist, dass „einfache Burschen“, die sich auf Belarussisch verständigen, keine Sache der Unmöglichkeit sind. Auch bei Žadan sprechen die „Proleten“ Ukrainisch.
n.: Ihren letzten Roman Mova haben Sie wieder auf Belarussisch verfasst. Ich habe die russische Version gelesen und kann mir schwer vorstellen, wie er auf Belarussisch funktioniert. Denn die russische Version lebt gerade vom Kontrast zwischen dem Russischen und den eingestreuten literarischen Zitaten auf Belarussisch, die die beiden Ich-Erzähler, die im Alltag ja nur Russisch sprechen und schreiben, mit ihrer exotischen Ausdruckskraft betören. Wie haben Sie diese „Zweisprachigkeit“ denn im belarussischen Original wiedergegeben?
V.M.: Durch den Stil natürlich! Hauptsächlich durch den Stilwechsel. Meine Protagonisten benutzen ein sehr primitives Belarussisch, das sozusagen schon „russifiziert“ ist.
n.: Ich fand diese scharfe Trennung zwischen der alltäglichen und der poetischen Sprache, die gleichzeitig wie eine Droge wirkt, sehr spannend. Ich denke, dass man die „mova“, also die verbotene belarussische Sprache, auch als eine Metapher jeder Literatursprache verstehen kann, die den Menschen im Alltag fehlt. Denn auch wenn du als russischer Schriftsteller auf Russisch schreibst, bist du in Wirklichkeit auf der Suche nach einer ganz anderen Sprache, die im täglichen Gebrauch einfach nicht existiert. Du erfindest also deine Sprache neu oder versuchst vielmehr einen Anschluss an eine Tradition zu finden, die diese Suche schon seit Jahrhunderten betreibt. Das ist auch eine Art „mova“, die im Alltag unmöglich und doch so begehrt ist. Deswegen bleibt das, worüber Sie schreiben, verständlich, auch wenn man sich im belarussischen Kontext nicht auskennt.
V.M.: Das ist ein interessanter Gedanke. Mein Übersetzer, Thomas Weiler, bereitet zur Zeit die deutsche Übersetzung von Mova vor. Und das ist eine der Strategien, über die er nachdenkt. Er möchte sozusagen diesen Trick, den wir im belarussischen Original haben, wiederholen, indem er die Alltagssprache und die Hochsprache kombiniert.
n.: Die zukünftige Welt, die Sie in Mova entwerfen, ist ziemlich eigenartig und voll verblüffender Details. Es gibt also den Westen und es gibt auch die sogenannten „Nordwestlichen Territorien“, eine Union von Russland mit Belarus und China. Der Westen ist verarmt, zumindest stürmen die westeuropäischen Migranten die Grenzen der Union in der Hoffnung, ihre ökonomische Situation zu verbessern. Dafür haben sie im Westen Freiheit. Oder zumindest keine Diktatur, wodurch Ordnung und Moral etwas zu leiden haben… Es herrscht ein Konsumkult und die Religionen der unterschiedlichen Marken konkurrieren untereinander um die Seelen der Kunden. Was die russisch-chinesische Union betrifft, geht es den Menschen dort ökonomisch relativ gut. Die Verhältnisse sind stabil, allerdings wird der Staat totalitär regiert. Auch hier haben die traditionellen Werte allerdings nicht gerade Hochkonjunktur. Als einer der Protagonisten, Sergej, gefragt wird, ob er an etwas glaube, ob er sich vielleicht zum Christentum bekenne, sagt er: „Nein. Wenn ich im Westen bin, dann glaube ich an Hermes. Aber wir hier haben Hermes nicht, also bleibt uns gar nichts!“. Gemeint ist hier freilich nicht der antike Gott, sondern die Marke. Auf jeden Fall besteht der Unterschied zwischen Westen und Osten vor allem in der Regierungsform. Das spirituelle Leben verkümmert in beiden Fällen…
V.M.: Ich muss zuerst sagen, dass uns alles, was wir im Roman über den Westen erfahren, durch zwei relativ unzuverlässige Erzähler mitgeteilt wird, die einander teilweise widersprechen. Deshalb können wir uns auch kein Bild machen, wie die Situation im Westen tatsächlich ist. Wir gehen durch Warschau und sehen die Stadt mit den Augen eines einfachen Burschen, der „Drogen“, also verbotene Textfragmente, ankauft und sie über die Grenze schmuggelt. Zu dem, was wir auf diese Weise wahrnehmen, muss man natürlich eine ironische Distanz beibehalten. Denn es ist auch ein Versuch, die Leute zu entlarven, die ein primitives Bild vom Westen haben. Und ich hoffe, meine Leser werden das verstehen, anstatt es für bare Münze zu nehmen.
n.: Aber diese Welt, die Sie durch die Aufzeichnungen Ihrer Erzähler konstruieren, sie muss ja in sich schlüssig sein…
V.M.: Verstehen Sie, die Ironie besteht hier darin, dass jene, die den Westen beschuldigen, die traditionellen Werte fallen gelassen zu haben, in der Tat selber nur an die Hermes-Boutiquen glauben! Sie sind selbst ein sekundäres Produkt der westlichen Kultur. Und diese Einstellung, diese Überheblichkeit gegenüber dem Westen wird hier persifliert, ohne dass ich eine ernste Aussage über die tatsächlichen Verhältnisse mache… In meinem Buch behandele ich übrigens die Rechten wie die Linken gleich ironisch…
n.: Das ist aber gerade die Frage, wer von den Protagonisten noch zu den Rechten oder zu den Linken gehört! Ich wollte an den Text unvoreingenommen herangehen… Natürlich sind dort bestimmte Reflexe der Gegenwart zu erwarten, aber zuerst möchte ich diese fiktionale Welt für mich entdecken und begreifen, was dort genau passiert. Sie ist jedoch dermaßen anders, dass viele Begriffe aus unserer Realität dort scheinbar keine Gültigkeit besitzen. Vieles ist einfach verkehrt. Etwa die Boutiquen, die zu Kultstätten geworden sind. Man kann natürlich sagen, dass sie auch heute schon in gewissem Sinne Kultstätten sind, wir machen jedoch immer noch eine scharfe Trennung zwischen Kirche und Shoppingcenter. In ihrem Roman ist „Konsumtempel“ keine Metapher mehr, da es ansonsten scheinbar gar keine Kirchen gibt. Was die Linken und die Rechten betrifft, kann man das auch nicht so einfach auf unsere Verhältnisse übertragen… Ich wollte gerade eine Frage zur Ironie stellen. Wenn man ein Buch liest, sucht man nach bestimmten Analogien, um den literarischen Kontext zu verstehen, in dem sich der Autor positioniert. Als ich Ihren Roman las, hatte ich den Eindruck, dass er sich in der Postmoderne, im Konzeptualismus verortet. Manches wird die Leser sicherlich an Sorokin erinnern, anderes vielleicht an die Zukunftsentwürfe von Houellebecq… Aber was für die Postmoderne insgesamt charakteristisch ist, das ist eben die Verwischung der moralischen Eindeutigkeit bis zur völligen Verunsicherung der Leser. Doch je weiter man Mova liest, desto stärker wird der Eindruck, dass die Sympathien des Autors einer bestimmten Interessensgruppe innerhalb des Romans gelten, und zwar derjenigen, die die Nationalsprache und Nationalkultur verteidigt. Oder ist es vielleicht auch eine Art Ironie, die sich nur besonders geschickt tarnt?
V.M.: Ja, selbstverständlich! Ich habe übrigens einige Freunde verloren, weil sie diese Ironie nicht wahrgenommen haben. Man darf auch nicht vergessen, dass dieser Text von einem Autor geschrieben ist, der im Alltag Russisch spricht. Zur Zeit ist es zumindest so. Wenn ich über Menschen schreibe, die bereit sind, die Fernsehstudios zu stürmen, nur um Belarussisch wieder einzuführen, ist auf jeden Fall eine gewisse Ironie dabei, zumal dieser Sturm die Situation im Endeffekt nur verschlimmert.
n.: Sie haben diesen Sturm dennoch sehr lebendig beschrieben, so dass der Leser die Atmosphäre des Kampfes spürt und fühlt, dass die Menschen nicht sinnlos fallen, sondern im Augenblick des Todes glücklich sind, da sie ihre Ideen verteidigt haben.
V.M.: Ja, aber dann sieht man doch, dass es alles sehr dumm war und nichts gebracht hat…
n.: Nun, man versteht schon von Anfang an, dass diese Aktion hoffnungslos ist. Aber mir schien entscheidend zu sein, mit welcher Einstellung diese Leute in den Kampf ziehen. Ich finde, dass der Text teilweise regelrecht einen gewissen Heldenmut, die Ekstase des Kampfes und die Opferbereitschaft feiert, zumal man sich als Leser rein emotional mit diesem Helden identifiziert. Der Roman bietet mit dem zweiten Erzähler, dem intellektuellen Junkie, auch keine wirkliche Alternative. Oder was denken Sie zu dieser zweiten Figur? Ist er ein Typ Mensch, der heute schon existiert, oder ist es eine Warnung davor, was in Zukunft noch auf uns zukommt?
V.M.: Meine ursprüngliche Intention bestand darin, zwei Erzählstimmen zu schaffen, die, obwohl sie über unterschiedliche Dinge und in unterschiedlichen Worten sprechen, zusammengehören und sich langsam aufeinander zu bewegen. Wir als Leser haben vielleicht den Eindruck, dass es sogar ein und derselbe Mensch sein könnte, der sich in unterschiedlichen Phasen seines Lebens mitteilt. Aber dann gehen sie auseinander. Mehr noch: Einer ermordet den anderen. Ich glaube, das Wichtigste hier ist nicht der Versuch eine Prognose aufzustellen, ob solche „Ungeheuer“ wie dieser Intellektuelle irgendwann mal die Welt erobern, sondern das Fixieren des für mich wichtigen Gefühls, dass die Freundschaft und sogar die Liebe in der heutigen Gesellschaft nach dem Schema „Drogendealer-Junkie“ funktionieren. Wir verkaufen einander alle Arten von Rausch. Und wir kommunizieren mit dem anderen nur, solange er das für uns wichtige Rauschmittel besitzt. Wir wollen uns alle grundsätzlich nur vergessen – im Sex, im Alkohol, im ständigen Konsum, in den Boutiquen, die zu Tempeln geworden sind, usw…
n.: Also deckt sich die Zukunft, die Sie im Roman entwerfen, zum Teil schon mit unserer Gegenwart? Sie haben bloß als Schriftsteller die Möglichkeit, die heutige Situation wie mit Röntgenstrahlen zu durchdringen und einige Phänomene zu beobachten, die sonst verborgen bleiben…
V.M.: Ja, das hängt vom Blickwinkel ab!
n.: Aber man kann trotzdem den Eindruck nicht loswerden, dass Sie diese Tendenzen nicht ganz objektiv, also sozusagen nicht mit einem neutralen Blick erfassen…
V.M.: Der Autor ist in diesem Buch nur als jemand präsent, der am Ende einen Punkt setzt. Er bestimmt also den Moment, in dem alles zu Ende ist. Ich glaube, man könnte diese Geschichte so lange fortsetzen, bis diese Kämpfer sich als völlige Idioten erwiesen haben. Aber die Tatsache ist, dass, rein historisch gesehen, Romantiker eine größere Attraktivität besitzen als Pragmatiker. Wir sind nun mal so programmiert, dass unsere Sympathien – aus historischer, ethnographischer und welcher Perspektive auch immer – auf der Seite jener sein werden, die in einen offensichtlich hoffnungslosen Kampf für den Erhalt einer Sprache ziehen, von der in 50 Jahren sowieso nichts mehr übrig bleibt.
n.: Dann ist es tatsächlich so, dass dieser Roman nicht nur und nicht einmal in erster Linie von der belarussischen Sprache handelt, sondern von dem Versuch, eine Situation zu beenden, die nicht mehr befriedigend ist – vielleicht für beide Seiten nicht?
V.M.: Verstehen Sie, alles, was dort steht, ist die Realität des heutigen Belarus…
n.: Ja, ich denke gerade darüber nach, wie man durch dieses Buch die Realität besser verstehen könnte. Und Verstehen heißt auch irgendwie Verändern, oder?
V.M.: Ja, das auch! Malevič hat in seiner Vitebsker Periode eine Theorie darüber entwickelt, wie die Kunst die Realität verändern kann, ohne sie nachzuahmen. Und mit seinen abstrakten Gemälden hat er versucht, auf eine magische Weise einen Einfluss zu nehmen. Mova ist in diesem Sinne auch ein magischer Text, der in die Zukunft gerichtet ist… Als ich das erste Tattoo mit Mova gesehen habe, ist es mir wie ein Licht aufgegangen!
n.: Was sind das für Tattoos?
V.M.: Als wir die dritte Auflage von Mova vorbereiteten, fanden wir einen chinesischen Kalligrafen, der zwei Hieroglyphen – „Mo“ und „Va“ – für uns gezeichnet hat. So konnten wir diese Auflage mit Illustrationen versehen. Und die Leute haben dann diese Hieroglyphen für ihre Tattoos verwendet. Man fühlt, welche Wellen das schlägt!
n.: Ist es also jetzt zu einer Art Kultbuch geworden? So vom Gefühl her?
V.M.: Ja, ich hatte das Gefühl, das ist mehr als ein Text. Vielleicht eine Art Pille, oder Stromschlag, der die ganze Stadt erfasst.
Das Gespräch wurde von Ekaterina Vassilieva geführt und aus dem Russischen übersetzt.
Bisher erschienene Romane von Viktor Martinovič:
In deutscher Übersetzung:
Martinowitsch, Viktor: Paranoia. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Dresden / Leipzig: Voland & Quist, 2014.
Erstveröffentlichungen auf Russisch/Belarussisch:
Martinovič, Viktor: Paranojja. Moskva: AST, 2009.
Martinovič, Viktor: Scjudzeny vyraj. Minsk: Pjaršak (elektronische Herausgabe, Belarussisch), 2011.
Martinovič, Viktor: Sfagnum. Minsk: Knigazbor (Belarussische Übersetzung), Pjaršak (elektronische Herausgabe, Originalversion Russisch), 2013.
Martinovič, Viktor: Mova. Minsk: Knigazbor (Belarussisches Original), Minsk: Lohvinaŭ (Russische Übersetzung), Pjaršak (elektronische Herausgabe), 2014.